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Die Große Reihe // Rückschau Saison 2022/23

Das Wort „Orient“ kommt vom lateinischen Verb „oriri“, das „sich erheben“, „entstehen“ und „aufgehen“ bedeutet – letzteres auf die Gestirne bezogen. Im Osten geht die Sonne auf, ebenso wie alle Gestirne (sofern sie sich nicht „zirkumpolar“ den ganzen Tag über dem Horizont bewegen). Der Orient ist daher die Himmelsrichtung, aus der das Licht kommt, das Licht der Religion, das Licht der Weisheit, das Licht der Aufklärung …


Aus dieser Natursymbolik entspringt der „Mythos Orient“, und die oft sagenhaften Vorstellungen von der Welt im Osten. Das Gegenstück zum Orient ist der Okzident, also das so genannte Abendland. Bis zur Entdeckung Amerikas lag Europa am westlichen Rand der bekannten Welt, also in der Richtung, in der die lichtgebenden Gestirne untergehen. Die Europäer sind immer wieder von Ideen und Menschen aus dem Osten beeindruckt und beeinflusst worden. Sicher eine der mächtigsten und prägendsten Bewegungen aus dem Nahen Osten in Europa war der Aufgang des Christentums, deren Zentralgestalt sich selbst bekanntlich als „Licht der Welt“ bezeichnete. Aber schon lange vorher sind die ersten Zivilisationen im orientalischen Zweistromland und in Ägypten entstanden, kultivierten den Ackerbau, die Künste und die Schrift. Spätestens die Entstehung des Islam brachte eine bis heute andauernde Konkurrenz der Religionen und Kulturen. Als die Osmanen Ende des 17. Jahrhunderts weit nach Westen bis vor Wien vordrangen, und erneut 1716-1718 war der militärische und kulturelle Schock groß und hinterließ in den nächsten Jahrzehnten auch musikalisch seine Spuren. Dieses osmanische Reich umfasste weit mehr als das türkischsprachige Anatolien. Es umfasste zweitweise den größten Teil Arabiens und Nordafrika. Deshalb unterschied man in Europa zunächst wenig zwischen den Kulturen dieser Länder. Das Genre der barocken „Türkenoper“ entstand, die im Grunde die gängigen Stoffe auf orientalisches Personal übertrug. Einige Jahrzehnte später reflektierten deutsche Singspiele im Sinne der Aufklärung Humanität und Gleichheit aller Menschen. 1683 hatte man vor Wien eine Janitscharenkapelle gefangen genommen. Auf diese Weise gelangten Becken, Triangel und Schellen in die europäischen Orchester, wo sie lange den Klang des Orients vertraten und besonders in „türkischen Märschen“ gebraucht wurden. Nach dem Frieden von Karlowitz (1699) entsandte der osmanische Sultan Mustafa II. gar Janitscharen-Musiker an verschiedene europäische Höfe. Je nach Einstellung vermittelten die lauten militärischen Schlaginstrumente ursprünglich Angst und Grauen, später aber auch Faszination und exotische Fröhlichkeit. Die orientalische Musik und ihre Struktur, ihre Tonleitern, Intervalle und Rhythmen, drangen erst sehr allmählich in die europäische Musik ein. Im musikalischen Exotismus des 19. und 20. Jahrhunderts findet sich ihr Wiederhall und schafft eine Atmosphäre der fernen Fremde. Mit der Wirklichkeit haben diese Stücke oft nicht allzu viel gemein – wohl aber sind sie Ausdruck unserer Träume von einer anderen Welt, in der die Sonne aufgeht.

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