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Das Geheimnis der Stille
In Daniel Kehlmanns 2005 erschienenem Roman „Die Vermessung der Welt“ wird der Universalgelehrte Alexander von Humboldt, auf seiner großen Reise durch Südamerika in einem Boot unterwegs auf dem Rio Negro, von seinen Begleitern gebeten,
„auch einmal etwas zu erzählen.
Geschichten wisse er keine, sagte Humboldt ... Aber er könne das schönste deutsche Gedicht vortragen, frei ins Spanische übersetzt. Oberhalb aller Bergspitzen sei es still, in den Bäumen kein Wind zu fühlen, auch die Vögel seien ruhig, und bald werde man tot sein.
Alle sahen ihn an.
Fertig, sagte Humboldt...
Entschuldigung, sagte Julio. Das könne doch nicht alles gewesen sein...“
Ruhe,
Schweigen, Stille – ausgerechnet sie sollen für eine Konzertreihe der
Stuttgarter Philharmoniker das Motto liefern? Musik und Stille scheinen
einander auszuschließen, sich zu widersprechen. Und doch braucht jedes
musikalische Kunstwerk Stille, bevor es anfängt zu klingen und Stille,
nachdem es aufgehört hat. Der Begriff der musikalischen Form, in dem
räumliche Vorstellungen auf eine Kunstgattung übertragen sind, die sich
nur in der Zeit erleben lässt, braucht die Stille als Begrenzung. Sie
entspricht hier ungefähr dem Rahmen um die Werke der bildenden Kunst.
Aber auch innerhalb von Musikstücken gibt es jede Menge Stille, als
Pausen, die häufig mindestens so wichtig sind wie die Töne, die sie
umgeben.
Wenn jeder immer und überall mit Hilfe von elektronischen
Medien über Musik verfügen und dauernd zum unfreiwilligen Opfer von
Beschallung durch andere werden kann, droht Stille zu einem seltenen und
schützenswerten Gut zu werden. Moderne Unterhaltungsmusik hat sich
längst darauf eingestellt, indem sie oft weder einen Anfang noch einen
Schluss zu haben scheint – sie kennt keine Stille mehr. Da kommen die
Orchesterwerke unserer Reihe tatsächlich aus einer anderen Zeit. „Wie
fange ich an?“ und „Wie höre ich auf?“ waren für die Komponisten der
klassisch-romantischen Epoche elementare Fragen. In gewissen Momenten,
wenn diese Musik leise wird, verklingt oder gar aussetzt, kann beim
Zuhören der Atem stocken. Dann ist es, als werde der Schleier vor dem
Geheimnis der Stille ein wenig gelüftet.